Ich bin am Arsch
- natax99
- 7. Apr. 2022
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Apr. 2022
Immer öfter hört und liest man in letzter Zeit, dass uns ein möglicher grossflächiger extremer Stromausfall bevorsteht. Ich weiss gar nicht, was ich davon halten soll.

Stecken Verschwörungsschwurbler und Rechtsextreme hinter diesen Warnungen? Schliesslich lässt sich mit dem Schüren von Angst viel Geld verdienen. So ein zweiwöchiges Notvorrat-Paket, das Vati für die ganze Familie im Überlebens-Onlineshop bestellt, ist nicht grad günstig. Oder ist das eine ernst zu nehmende, auf Fakten basierende Möglichkeit?
Diese Verschwörungstheoretiker haben mich die letzten zwei Jahre so müde gemacht, dass ich fast nicht darüber nachdenken mag.
Ich weiss nur: Ich wäre nicht vorbereitet. Habe kein Wasser, keinen Reis, keinen Zucker, keine Taschenlampe, keine Batterien, kein Notstromaggregat, keine einbruchgeschützte Tür, keine Waffe, kein gar nichts. Und mein Toilettenpapier reicht für genau noch zwei Stunden. Ich bin am Arsch.
Sollte ein Cyberkrimineller auf die Idee kommen, dem Land den Strom abzuzwacken, dann geht mir auch der Saft aus. Oder sagen wir mal, das Wasser. Ich wäre auf Hilfe angewiesen. Von meinen Nachbarn. Toll. Eh ja, das mit der Waffe meine ich natürlich nicht ernst. Also, ich nicht. Es gibt aber Menschen, die legen sich Waffen zu. Und ich rede hier nicht von Texas, sondern von Zürich in der Schweiz. Damit sie sich verteidigen können, wenn’s hart auf hart kommt und Nachbarn während einer Katastrophe, wie zum Beispiel einer Cyberattacke oder einer Zombie-Apokalypse, an ihrer Tür klingeln. Also ein Zombie. Das wäre dann ich in diesem Fall. Peng, Peng, Peng. Meine letzten Worte an meinen Nachbarn, bzw. an die Tür, durch die er sechs Kugeln abgefeuert hat: Aua, ich wollte doch nur nach Zucker für den Kaffee fragen, ich wusste ja, dass Zucker ungesund ist, aber dass er mich grad umbringt.
«Ich bin kein Zombie, ich schwöre, aua.» Bumm. Aus. Dunkelheit.
In Zürich werden Menschen bei einem Stromausfall also wegen Zucker umgenietet. Irgendwo auf der Welt hat vor nicht allzu langer Zeit ein Mann seinen Freund getötet. Wegen Mayonnaise. Ich weiss nicht, was schlimmer ist. Tod durch Zucker oder durch Mayonnaise. Jedenfalls gibt es Menschen, die auf Katastrophenfälle vorbereitet sind. Ich nicht, ich bin eine Katastrophe, wenn’s um Vorbereitung geht. Die Vorbereiteten, das sind die Prepper. Sie üben in Schiesskellern für die Katastrophe. Bunkern Tonnen von Lebensmitteln, Wasser, Zucker, um daraus Schnaps brennen zu können. Denn wenn der Strom aus geht, funktionieren auch elektronische Zahlungsmittel nicht mehr. Eine mögliche neue harte Währung im Sinne eines Tauschmittels: Selbstgebrannter Schnaps. Hergestellt aus Zucker. Ach so, deswegen wurde ich umgenietet. Weil ich frisch fröhlich nichtsahnend nach Zucker gefragt habe. Nach Zucker, mit dem man Schnaps brennt. Während einer Katastrophe, in der die ganze staatliche Infrastruktur zusammengebrochen ist und man im Survival-Modus agiert. So unendlich dumm von mir. Ich hätte mich auch erschossen. Und beim Magazin leerschiessen die Worte: «Du willst meinen Zucker? Nimm das!» geschrien. Peng, Peng, Peng. Übrigens: Schwarzgebrannte Spirituosen nennt man Moonshine. Dieser Begriff stammt aus der Prohibitionszeit. Um von den Prohibitionsagenten nicht entdeckt zu werden, brannten die Schwarzbrenner ihren Alkohol nachts. Ich könnte mir einen Wein- und Schnapsvorrat in meinem Keller anlegen. Müsste meinen Keller dann extrem sichern. Auf dem Weg zurück in meine Wohnung sind es fünf Stockwerke, ohne Lift. Sollte ich jemandem im Treppenhaus begegnen, Zombie oder Nachbar, brauche ich entweder einen Baseballschläger oder Pfefferspray oder eine Machete, oder alle drei, um meinen Schnaps und auch mich verteidigen zu können. Ich spreche diese Thematik bei einem Treffen mit Freunden an. Scherze ein wenig über das Unvorbereitet sein. Doch zu meinem Erstaunen hat sich eine Person in der Runde tatsächlich eine spezielle filtrierende Wasserflasche bestellt, mit der man in einer Notlage sogar Wasser aus dem See trinken könnte. Ich bin beeindruckt. Und glaube langsam, dass ich die einzige Person auf dieser Welt bin, die nicht vorbereitet ist. Ich wohne in einer Dachwohnung im 5. Stock, ohne Lift, habe kein Wasser, keinen Schnaps, keine Machete, keinen Plan. Und noch eine einzige WC-Rolle.
Ich habe die Arschkarte gezogen
Ich schaue mir Erdgeschoss-Wohnungs-Inserate an. Darauf habe ich aber nicht wirklich Lust. Seit ich mir als Kind jede Folge «Aktenzeichen XY ungelöst» reingezogen habe, sitzt meine Angst vor Einbrechern tief. Und vor Wäldern. Und vor Kellern. Und vor dem nachts nach Hause laufen. In einer Erdgeschosswohnung würde ich kein Auge zutun, die Machete unter der Bettdecke fest umklammert. Fünf schlaflose Nächte später der Schock vor dem Spiegel: mit meinen roten Augen und dunklen Augenringen sehe ich aus wie ein Zombie. Ich schreibe das Wort «Notvorrat» und «Psychotherapie» auf meine Prioritätenliste, die schon eine ganze A4-Seite lang ist. Gewisse Stichworte sind mit einem gelben Leuchtstift «highgelightet» die haben mehr Prio Status als die anderen 50 Stichworte. Ich bin eine unvorbereitete Aufschieberin. Alles aufschieben, bis zur letzten Sekunde. Die Dinge könnten sich ja von selbst erledigen. Nicht. Erledigen, ein schönes Stichwort. Falls uns Cyberkriminelle oder Zombies nicht erledigen, dann werden es Wetterextreme aufgrund des Klimawandels sein. Hallo Hitzesommer und Dächer wegreissende Stürme. Ganz ehrlich, das mit dieser Dachwohnung macht mir Sorgen. Grosse Sorgen.
Comments